Kontextsensitivität – Warum der Sinn wichtig ist

von | Feb. 16, 2021 | Neurorehabilitation

Bild Apfel Kontextsensitivität

Alexander Romanowitsch Lurija und das Experiment mit den Äpfeln

Im Jahre 1963 behandelt Alexander Romanowitsch Lurija Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Lurija ist Psychologe an der Universität Moskau. Er beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten und wie unser Gehirn daran beteiligt ist, dieses Verhalten zu erzeugen. Unter anderem fragte er sich, was passiert, wenn Teile des menschlichen Gehirns beschädigt wurden. Hierbei begegnen Lurija die verschiedensten Menschen und auch eine Menge unterschiedlicher Erkrankungen. 

Ein bestimmtes Vorgehen bei der Behandlung blieb Lurija besonders in Erinnerung. Gemeinsam mit Patienten, die nach einem Schlaganfall an einem gelähmten Arm, auch “Armparese” genannt, leiden, führte er verschiedene Übungen durch. Die Patienten sollten unter anderem den gelähmten Arm immer wieder so hoch wie möglich heben. So sollte die Bewegung des Armes nach und nach verbessert werden. Eine weitere Aufgabe war es, den gelähmten Arm auf Höhe eines hoch an der Wand hängenden Regals zu heben und eine Greifbewegung auszuführen. Die dritte Aufgabe umfasste nunmehr, einen Apfel von eben diesem Regal zu greifen. Jede der drei Aufgaben war für die Patienten eine große Herausforderung. Den Arm anzuheben war für viele Patienten schwierig. Mindestens genauso schwierig war es, den Arm zum Regal zu heben. 

Gerade deshalb war das Ergebnis der dritten Aufgabe überraschend: Lag ein Apfel auf dem Regal, gelang es fast allen Patienten plötzlich, den Arm höher zu heben als zuvor. Eigentlich hatte sich nichts geändert – der gelähmte Arm wurde durch den Apfel auf dem Regal nicht wundersam geheilt. Und doch war eine entscheidende Sache anders: Das Stichwort lautet “Kontextsensitivität”.

 

Warum ist Kontextsensitivität wichtig?

Um zu verstehen, was mit Kontextsensitivität gemeint ist und welche Bedeutung sie hat, müssen wir ein paar Jahrzehnte zurückgehen. Der traditionelle Ansatz, Patienten mit neurologischen Erkrankungen durch die Rehabilitation zu begleiten, konzentrierte sich damals darauf, die wesentlichen Symptome der Erkrankung zu behandeln. Das bedeutet, wenn man unter Schwierigkeiten mit der Konzentration leidet, erhält man ein Training mit speziellen Übungen. Diese Übungen trainieren dann ausschließlich die Konzentration. Im Falle von Sprachstörungen beginnt man einzelne Worte Schritt für Schritt wieder zu erlernen, um so zum Sprechen zurückzufinden. 

Bis in die 1990er Jahre war dieses Vorgehen, insbesondere bei kognitiven Störungen (Schwierigkeiten im Denken und Handeln), der Standard. Die Übungen wurden Schritt für Schritt schwieriger, bis eine bestimmte Leistung erreicht wurde. Mit der Zeit stellte man jedoch fest, dass das Wiederholen dieser Trainingsaufgaben allein in einen Schlamassel führte: Die Patienten wurden zwar in der Durchführung der Aufgaben besser, konnten sich aber trotzdem nicht besser an ein Gespräch erinnern oder dem Unterricht folgen. Dies liegt daran, dass geistige Fähigkeiten nicht in vollständig voneinander abtrennbare Bestandteile unterteilt werden können. Das Gedächtnis hängt beispielsweise sehr eng mit der Aufmerksamkeit zusammen. Die Aufmerksamkeit ist wiederum wichtig, damit wir uns konzentrieren können. Besonders im Alltag werden oft mehrere Komponenten unseres Geistes gleichzeitig beansprucht. 

Deshalb hat der Sonderpädagoge Lester Mann bereits 1979 hervorgehoben, dass die Neurorehabilitation sich stets darauf konzentrieren sollte, Patient:innen da zu unterstützen, wo sie es am meisten benötigen. Junge Patient:innen profitiert heutzutage unter Umständen mehr davon, den Umgang mit einem Smartphone wiederzuerlernen. Für ältere Patient:innen mag das Arbeiten im Garten mit Schaufel und Harke von höherem Wert sein. Selbst, wenn am Ende klar wird, dass beide gleichartige Bewegungs- und Denkmuster mit verschiedenen Aufgaben erlernen, steht im Vordergrund, dass Rehabilitand:innen klar erkennen, wo das zu Erlernende eingesetzt wird. 

Kontextsensitivität ist aus dem Blickwinkel, wie unser Gehirn lernt, besonders interessant. Lernen wir etwas, entsteht eine Verknüpfung dazu im Gehirn. Diese Verknüpfungen werden fester, je häufiger wir darauf zurückgreifen. Wie das im echten Leben funktioniert, kann man am Lernen einer Sprache sehen: Haben wir früher als Kinder vielleicht Französisch oder Latein gelernt, konnten wir zu Schulzeiten vielleicht tatsächlich ganz gut sprechen oder zumindest verstehen (Anmerkung d. Autors: Latein war meist eher eine Qual). Zum damaligen Zeitpunkt wurde jedes Mal, wenn eine neue Vokabel oder eine grammatikalische Regel gelernt wurde, eine neue Verknüpfung im Gehirn geschaffen und die schon bestehenden gefestigt. Haben wir dann sogar noch einen guten Grund, die Sprache einzusetzen, zum Beispiel, weil unsere neueste Liebschaft Französisch spricht, wird es uns mit hoher Wahrscheinlichkeit leichter fallen, die Sprache zu erlernen und einzusetzen. Je länger das jedoch nicht geschieht, desto schwieriger wird es, das Gelernte abzuspeichern oder abzurufen. Die Verknüpfungen werden nicht fest oder schwächer. Die Vokabeln und Regeln verlieren ihren Kontext. Und damit ihre Bedeutsamkeit. 

Im Beispiel des Moskauer Psychologen Lurija hatte es für die Patienten wenig Bedeutung, den gelähmten Arm einfach nach oben zu bewegen. Wenn sie jedoch nach einem Apfel greifen sollten, gab es auf einmal einen Kontext und die Aufgabe fiel leichter. Was schließen wir daraus? Wird eine Therapie in einen Kontext eingebettet, stehen die Chancen gut, dass Patienten dabei unterstützt werden, die Rehabilitation wirken zu lassen.

 

Kontextsensitivität in der Therapie

Dies umzusetzen ist allerdings oft eine größere Herausforderung im therapeutischen Alltag. Weder die stationäre, noch die ambulante Neurorehabilitation können jeder Besonderheit im Leben eines Patienten gerecht werden. Umso wichtiger ist es daher, gemeinsam, d.h. mit den Patienten, Angehörigen, Therapeuten und Ärzten, herauszufinden, wo eine Therapie ansetzen kann. So kann man gemeinsam herausfinden, wie Fähigkeiten bestmöglich trainiert werden können. Die eigenen Bedürfnisse sollten daher im Vordergrund stehen, wenn es darum geht, welche Fähigkeiten wieder zu erlernen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, welche Fähigkeiten für das eigene Leben vor der Erkrankung entscheidend waren und es in der Zukunft sein können. Wird eine Therapie auf die Rückkehr in den Alltag ausgerichtet und ist für den Patienten direkt erkennbar, wofür er eine bestimmte Behandlung bekommt und wie er die erworbenen Fähigkeiten im Alltag einsetzen kann, ist die Wahrscheinlichkeit für einen Therapieerfolg höher (Frommelt & Lösslein, 2010). 

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